Titel
Wilhelminism and Its Legacies. German Modernities, Imperialism, and the Meaning of Reform, 1890-1930. Essays for Hartmut Pogge von Strandmann


Herausgeber
Eley, Geoff; Retallack, James
Erschienen
Oxford 2003: Berghahn Books
Anzahl Seiten
269 S.
Preis
$75.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Müller, Historisches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

„Wilhelminism and its Legacies“ stellt die Festschrift für Hartmut Pogge von Strandmann dar, die sich, wie Volker Berghahn im Vorwort betont (S. VIII), von gängigen Festschriften deutschen Zuschnitts dadurch abzugrenzen sucht, dass sie in Aufsätzen von Schülern des Jubilars ein kohärentes Thema behandelt. Das Anliegen des Bandes besteht in der Erweiterung der politischen Geschichtsschreibung des Kaiserreichs um verschiedene Ausprägungen von Reform- und Modernitätskonzepten (S. 4f.).

Ein wesentliches Anliegen des Historikers Pogge war und ist die Analyse deutscher Geschichte seit der Revolution von 1848 in kritischer Auseinandersetzung mit der ‚Sonderwegsthese’. 1 Die Forschungskontroverse um das 1980 erschienene Buch „Mythen deutscher Geschichtsschreibung“ und die Desiderate, die sich aus dieser Diskussion ergaben, stehen daher im Mittelpunkt des einleitenden Kapitels von Eley und Retallack (S. 1-15) und durchziehen implizit mit der von Blackbourn schon 1980/84 formulierten Frage „What Kind of Reform?“ die meisten Beiträge des Bandes. 2 Die beiden Herausgeber plädieren für eine grundsätzliche Neubewertung der Verbindungen und gegenseitigen Beeinflussungen von modernisierenden und vermeintlich rückständigen Faktoren im Kaiserreich (S. 5f.). Diese Forderung ist, ebenso wie der Ansatz einer Politikgeschichte in der Erweiterung, an sich nicht neu. Erstere bestimmte schon den Tenor einiger Kritiker der „Mythen“ zu Beginn der 1980er-Jahre, Letzterer ist seit einigen Jahren in der Forschung dominierend. 3 Dieser Sammelband zeigt daher exemplarisch die Vielschichtigkeit von „Modernität“ im Kaiserreich. Wie Klaus Tenfelde jüngst bemerkte, sei es eine der eigentümlichen Paradoxien des Kaiserreichs gewesen, dass auch gerade die konservativen Elemente der wilhelminischen politischen Konstellation „eine ganz eigentümliche Modernität“ in vielen sozialen und politischen Teilbereichen hervorbrachten. 4 Daher plädieren die Herausgeber anstelle einer neuen Sonderwegsdebatte, die inzwischen als abgeschlossen gelten kann 5, für eine Erweiterung des Blickfeldes auf „politische Modernisierung“, um zu einer Neubewertung der politischen Kultur und der spezifischen Modernität des Kaiserreichs zu gelangen (S. 8).

Angesichts der Vielschichtigkeit des Begriffs „Modernität“ stellt sich dem Leser die Frage, welches Konzept von „Modernität“ der Analyse eigentlich zugrunde gelegt wird. In diesem Band wird durchgängig ein sehr weites Konzept vertreten, das aus dem Erwartungshorizont der Zeitgenossen heraus zu beschreiben sucht, welche Formen und Teilaspekte „Modernität“ als reformgerichtetes Potenzial unabhängig von interdependenten und teleologisch verengten Verknüpfungen der Sphären Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im untersuchten Zeitraum annehmen konnte (S. 6, 8f.). Dies deutet der Sammelband durch die Pluralformen „Modernities“ und „Meanings of Reform“ schon im Titel an. Die Vielschichtigkeit der Analysekategorie stellt sich einer normativen Bewertung des wilhelminischen „Modernisierungspotenzials“ entgegen, so dass die Beiträge ihre jeweils untersuchten Formen von „Modernität“ und „Demokratisierung“ in der politischen Praxis des deutschen Kaiserreichs, besonders nach 1890, verorten können.

Die Aufsätze des Sammelbandes setzen sich mit drei Schwerpunkten auseinander und spiegeln somit einige der Forschungsschwerpunkte des Jubilars wider. Zum einen beschäftigen sie sich mit der kritischen Historisierung sozialwissenschaftlicher Ansätze von „Modernisierung“ und „Demokratisierung“, zum zweiten mit Formen und Funktionen von Imperialismus und Kolonialpolitik im Kaiserreich, und zum dritten mit Handlungsspielräumen und Erwartungshorizonten in der „Krise der Moderne“ (S. 219).

Im ersten Themenbereich fokussieren die Autoren die schon in der Einleitung kritisierten und oftmals paradigmatisch vorgetragenen ‚Modernisierungstheorien’.6 Sie argumentieren übereinstimmend, dass Idealdefinitionen von Demokratie und Modernisierung, die lange Zeit als westliche Idealfolie und normativer Vergleichsmaßstab für das Kaiserreich galten, durch einen auf die diskursive und soziale Praxis abhebenden, weiten Begriff von – politischer – Modernisierung ersetzt werden müssen. 7 Auf dieser Grundlage breiten sie ein vielschichtiges Panorama von Reformansätzen und Politisierungsformen aus. Geoff Eley (S. 16-33) plädiert für eine Ausweitung des rechtlich definierten Staatsbürgerbegriffs, um die politischen Spielräume einer Bürgergesellschaft „von unten“ einzufangen. Auf der Grundlage von Applegates und Confinos Studien zur sozialen Praxis der Nationsbildung auf der lokalen Ebene 8 betont er, dass die deutsche Gesellschaft ein höchst politisiertes Gefüge gewesen sei, das sich durch den Wandel und die Vielfalt politischer Aktivitäten seiner Bürger auszeichnete. Ebenfalls auf die soziale Praxis der Demokratisierung der Gesellschaft zielt Brett Fairbairn (S. 34-50) ab. Mit der Untersuchung des Genossenschaftswesens und der Verbindung von Demokratie und Eigentum hebt er hervor, dass die relative Autonomie gegenüber dem Staat die Genossenschaften zu praktischen Räumen der Einübung von Partizipation und Verantwortung auf der lokalen Ebene gemacht habe (S. 48). Mark Hewitson (S. 73-90) fragt nach den westeuropäischen und amerikanischen Vorbildern für eine mögliche Verfassungsänderung des Kaiserreichs und arbeitet die Ablehnung dieser Vorbilder nach 1900 heraus. Dabei betont er zu Recht, dass die Reformkrise des späten Kaiserreichs zwar Kritik an den politischen Institutionen des Reiches und Preußens schürte, diese Krise aber mangels als machbar und konsensfähig angesehener Alternativkonzepte für eine Reform nicht eskalierte. Das Bewusstsein eines Staates sui generis, so könnte man überspitzt formulieren, hemmte die Reformbestrebungen vor dem ersten Weltkrieg trotz aller Kritik entscheidend. Matthew Jeffries (S. 91-106) arbeitet die gesellschaftlichen Gegenentwürfe der sehr disparaten Lebensreformbewegung heraus. Oliver Grant (S. 51-72) bestreitet die Einschätzung der ostelbischen Landwirtschaft als rein „vorindustriell“, und argumentiert, dass seit Mitte des 19. Jahrhunderts diese Charakterisierung durch die Adaption technischen Fortschritts und durch die Reaktion auf die sich verändernden sozialen und wirtschaftlichen Umstände nicht angemessen erscheint. Eine Verknüpfung von „politischer Rückständigkeit“ und traditionaler Landwirtschaft in Preußen sei unzulässig; vielmehr seien die politischen Ansichten der ostelbischen Agrarier rein in der politischen Sphäre zu verorten.

Im zweiten Themenbereich werden vor allem die Imperialismusthesen Wehlers kritisch betrachtet. Erik Grimmer-Solem argumentiert (S. 107-122), dass die Einschätzung Schmollers als eines irrationalen, nationalistischen Apologeten des Flottenbaus, die bis heute vorherrscht 9, in Frage gestellt werden müsse. Vielmehr sei sein außen- und wirtschaftspolitisches Konzept mit dem klaren Bewusstsein formuliert, durch eine propagierte Machtpolitik England direkt herauszufordern. Paul Probert (S. 123-137) stellt die außenpolitischen Sichtweisen der SPD gegenüber England während der Jahrhundertwende dar, während Willem-Alexander van’t Padje (S. 138-153) den Anlass des Krüger-Telegramms an den diplomatischen Spannungen zwischen England und Deutschland festmacht, die aufgrund einer offenen Aussprache zwischen dem englischen Gesandten in Berlin, Malet, und Hohenlohe sowie Marschall Ende 1895 ausbrachen. Arne Perras (S. 154-170) zeigt in einer Analyse von Carl Peters, dass Bismarcks Kolonialpolitik, entgegen Wehlers These vom ökonomischen „ideologischen Konsenses“ eines manipulativen Sozialimperialismus, verstärkt aus der nationalistischen Dynamik der deutschen Kolonialbewegung als einer Verbindung aus ökonomischem Imperialismus und Migrationskolonialismus zu erklären sei. Bismarcks Kolonialpolitik sei weniger als ökonomische Ablenkungspolitik, sondern stärker als Reaktion auf einen kolonialen Nationalismus anzusehen. Nils Oermann arbeitet (S. 171-184) das Verhältnis von Rechtssetzung und Rechtspraxis in den Kolonien heraus und zeigt an zwei Beispielen (Körperliche Bestrafung und ‚Misch’-Ehen in Deutsch-Südwest-Afrika), dass das deutsche Recht hier, gerade nach den Aufständen 1904/05, nicht zur Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit aller Einwohner, sondern vor allem nach den Interessen und Bedürfnissen der deutschen Kolonialisten vor Ort angewandt und ausgelegt wurde. Niall Ferguson (S. 185-201) bearbeitet exemplarisch an den Ansichten Max Warburgs die Bedeutung der deutschen Hochfinanz für die deutsche Weltpolitik. Warburg teilte das Weltmachtstreben, sah aber in der Außenfinanzpolitik die realistische Zukunftsperspektive für deutsche Weltpolitik. Ausschlaggebend waren dabei die schwachen fiskalischen Grundlagen des Reiches, so dass eine effektive Weltpolitik auf der Stärkung des Kapitalexports und des ausländischen Kapitalerhalts auf dem deutschen Markt beruhte. Diese Optionen wurden durch die Vorkriegskrisen und den ersten Weltkrieg wesentlich geschwächt.

Der dritte Themenkreis wendet sich dem Erbe des Kaiserreichs sowie den Handlungsspielräumen in den unmittelbaren Nachkriegsjahren zu. Conan Fischer erarbeitet (S. 202-218) die nach 1918 zwischen den alten Eliten und den neuen Machthabern praktizierte Konsens- und Kompromisspolitik, die erst in der Krise von 1923 zusammenbrach. Die permanente Krise des parlamentarischen Systems mangels eines tragfähigen Kompromisses unter den politischen Entscheidungsträgern bis 1933 könne also im Zusammenbruch der Kompromisspolitik zwischen Wilhelminischen Eliten und Sozialdemokratie im Herbst 1923 verortet werden. Katiana Orluc postuliert für Coudenhove-Kalergi „a Wilhelmine Legacy” (S. 219-234). Mit der Einordnung seiner Pläne und Visionen in die vor dem ersten Weltkrieg vorherrschenden Denkströmungen von Kulturpessimismus und technokratischem Optimismus kennzeichnet sie ihn als „Produkt des Wilhelminischen Zeitalters“.

In einem abschließenden und thematisch übergreifenden Kapitel betont James Retallack mit „Ideas into Politics: Meanings of Stasis in Wilhelmine Germany“ (S. 235-252) noch einmal die Problematik des Wilhelminischen Zeitalters, die er vorwiegend in den Spannungen von Stillstand und Reform sieht. Er betont zum einen die zugrunde liegenden Werte und Anschauungen vieler Zeitgenossen, die am bewährten Verfassungsgefüge des Reiches festhielten und mangels für sie tragbarer Alternativen zwar Kritik äußerten, aber diese Kritik im Rahmen eines spezifisch deutschen Konstitutionalismusbegriffs hielten. Zum anderen war es, so argumentiert er, gerade der Reformstau, der die Wilhelminische Ära zu einer spannungsgeladenen und reformorientierten Zeit machte, und dieses Zusammenspiel von Stillstand und Festhalten, und Reform und Kritik mache die eigentümlich widerwillige Reaktion auf den politischen Stillstand in Form der verschiedenen Ansätze und „meanings of reform“ um 1900 zum Angelpunkt der Epoche. Eines der beiden Elemente zu vernachlässigen oder in die Dichotomie von Fortschritt und Rückständigkeit zu drängen hieße, das Kaiserreich einseitig zu missverstehen. In dieser Form liefert Retallack eine Eingrenzung des Wilhelminismusbegriffs, der in der Einleitung (S. 8) noch unklar bleibt.

Daher ist es ein Hauptverdienst des Bandes, eine Historisierung der „modernen“ Konzepte von Parlamentarismus und Demokratie vorzunehmen. Nicht alles „Moderne“ erwies sich in der historischen Perspektive als „demokratisch modern“. Es ist zu bedauern, dass angesichts der Fülle von Ansätzen zu einer Historisierung des Wilhelminischen Zeitalters das auch von den Herausgebern aufgeworfene notorische Desiderat systematisch vergleichender Ansätze durchgängig fehlt (S. 5), denn nur so ließe sich erörtern, welche Eigenheiten das Kaiserreich in seiner Epoche aufwies. Der Ansatz, Modernisierungserfahrungen und -konzepte historisch zu verorten, sie aus der eigenen Zeit heraus zu analysieren und sie nicht auf einen deutschen Weg nach Westen zu schicken, machen den Band zu einem anregenden Beitrag für die Kaiserreichforschung.

Anmerkungen:
1 Blackbourn und Eley erwähnen Pogge explizit im Vorwort der englischen Auflage für die Hilfestellungen und Anregungen sowohl bei der Entstehung des Buches als auch bei der Fertigstellung der deutschen Ausgabe, vgl. Blackbourn, D.; Eley, G., The Peculiarities of German History. Bourgeois Society and Politics in Nineteenth-Century Germany, Oxford 1984, S. V-VI.
2 Vgl. Blackbourn, D., The Discreet Charm of the Bourgeoisie. Reappraising German History in the Nineteenth Century, in: Ders., Eley, G. (wie Anm. 1), S. 159-292, S. 276ff.
3 So u.a. Langewiesche, D., Entmythologisierung des „deutschen Sonderweges“ oder auf dem Wege zu neuen Mythen?, in: AfS 21 (1981), S. 527-532.
4 Vgl. Tenfelde, K., 1890-1914: Durchbruch der Moderne? Über Gesellschaft im späten Kaiserreich, in: Gall, L. (Hg.), Otto von Bismarck und Wilhelm II. Repräsentanten eines Epochenwechsels? Paderborn 2000, S. 119-141, bes. S. 140-141.
5 Vgl. Kühne, T., Das deutsche Kaiserreich 1871-1918 und seine politische Kultur. Demokratisierung, Segmentierung, Militarisierung, in: NPL 43 (1998), H. 2, S. 206-263, bes. S. 248.
6 V.a. Wehler, H.-U., Modernisierungstheorie und Geschichte, Göttingen 1975.
7 Vgl. Dahl, R. A., On Democracy, New Haven 1998; Anderson, M. L., Practicing Democracy. Elections and Political Cultures in Imperial Germany, Princeton 2000.
8 Applegate, C., A Nation of Provincials, Berkeley 1990; Confino, A., The Nation as a Local Metaphor, Chapel Hill 1997.
9 Wehler, H.-U., Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, München 1995, S. 1078, 1129-1145.